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Nachrichten aus Orwells Unterwelt

Die freie Einsicht in die Stasi-Unterlagen darf nicht eingeschränkt
werden

Von Klaus-Dietmar Henke

Wenn Elefanten streiten, leidet das Gras, sagt eine afrikanische Volksweisheit. Es wäre schön, wenn die Zeitgeschichtsforschung bald erleichtert zu den Akten nehmen könnte, dass beim Streit zwischen der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen und dem Bundesminister des Inneren einer der schutzwürdigsten Jagdgründe historischer Aufklärung über die Pathologie totalitärer Staatspraxis doch nicht vollends zertrampelt wurde. Marianne Birthler und Otto Schily führen beide bedenkenswerte Argumente ins Feld. Deshalb kann der Deutsche Bundestag durch die Korrektur einer missdeutbaren Bestimmung in seinem international zu Recht gerühmten Stasi-Unterlagen-Gesetz vom 20. Dezember 1991 (StUG) die Kernforderungen der Kontrahenten problemlos miteinander versöhnen und trotzdem den Aufklärungszweck des Gesetzes wahren. Pünktlich zum 10. Geburtstag des StUG würden die Volksvertreter damit nicht nur weiteren Flurschaden verhindern, sondern neuerlich ein mühsam errungenes Kernelement bundesrepublikanischer politischer Kultur stärken: den aufrichtigen und verantwortungsvollen Umgang mit unserer Geschichte.

Da ein hohes Gut auf dem Spiel steht, ist zunächst der Spreuhaufen irreleitender Behauptungen fortzublasen, der den sachlichen Kern der Auseinandersetzung zudeckt. Anlass war der schlichte Tatbestand, dass die Bundesbeauftragte im Falle des Altbundeskanzlers Helmut Kohl, der durch trübe Machenschaften zur Mitfinanzierung seiner CDU aufgefallen ist, ebenso zu verfahren gedachte, wie es die Behörde seit ihrer Errichtung 1992 immer tat. Sie hatte Antragsteller auf Akteneinsicht zu bedienen, die wissen wollten, wie das Ministerium für Staatssicherheit den Fall Kohl gehandhabt hatte. Also wurde aus den vorhandenen Unterlagen eine sorgfältige Auswahl getroffen und zur Freigabe vorbereitet. Weil der Altbundeskanzler dagegen jedoch eine Klage anstrengte, sah die Bundesbeauftragte davon ab, die Kohl-Dokumente herauszugeben. Anders als Otto Schily, hielt die kurz zuvor vom Bundestag gewählte und vom Innenminister ziemlich grob angefasste Marianne Birthler die bislang unbeanstandete Handhabung der Aktenfreigabe für die politische und historische Aufarbeitung gleichwohl für rechtens. Doch am 4. Juli 2001 entschied das Verwaltungsgericht Berlin in diesem Einzelfall gegen die Behörde und damit implizit gegen deren langjährige Praxis. Das wohl abgewogene Urteil könnte vor dem Bundesverwaltungsgericht Bestand haben. Dann wäre es mit der sinnvollen wissenschaftlichen Nutzung eines einzigartigen, in der friedlichen Revolution von 1989 geretteten Quellenbestandes vorbei.

Doch so weit sind wir noch nicht. Der Streit zwischen Birthler und Schily und das Berliner Kohl-Urteil offenbaren lediglich zweierlei: Die langjährige Praxis der Aktenherausgabe für die Aufarbeitung ist vom Wortlaut des Stasi-Unterlagen-Gesetzes nicht zweifelsfrei gedeckt. Zweitens: Bei der Formulierung des maßgeblichen § 32 ist ein unscheinbarer Fehler unterlaufen, der in der Praxis aber das Kernziel der Aufarbeitung torpediert. Es geht also mitnichten um die "unerträgliche Politisierung einer Rechtsfrage", wie polemisiert wurde, sondern um die erfreuliche Klärung einer umstrittenen Rechtsfrage bei der politischen und historischen Aufklärung. Unsinn ist es auch, mit Blick auf die beiden Wessis Kohl und Schily zu unterstellen, durch Knebelung der Gauck-Behörde wolle sich "der Westen" nun der Aufdeckung seiner eigenen Stasi-Verstrickungen entziehen. Die Klage eines ehemaligen DDR-Bürgers hätte zum selben Ergebnis geführt. Es ist nichts als eine Laune der Geschichte, dass sich die Debatte an Helmut Kohl entzündet, der das Gesetz unterzeichnete und sich beim Regierungswechsel 1998 nicht eben als Garant eines sensiblen Umganges mit historischen Dokumenten entpuppte.

Entrechtung als Staatsroutine

Zur Spreu der hohlen Argumente gehören auch die gesinnungsnobel daherkommenden Versuche, die Nutzung des schmutzigen Stasi-Erbes in die Schmuddelecke des Voyeurismus zu rücken oder sie als Hinweis auf ein unterentwickeltes Rechtsstaatsbewusstsein zu deuten. In Wirklichkeit verhindert das Gesetz jeglichen Missbrauch von Informationen aus dem Kernbereich der Privat- und Intimsphäre. Niemand kann damit die amourösen Abenteuer ostreisender Westpolitiker oder irgendwelche Familienverhältnisse ausforschen. Die Erkenntnis, dass die Geheimpolizei der Staatssozialisten ebenso wenig wie die "Sicherheitsorgane" der Nationalsozialisten nach Maßgabe des Bonner Grundgesetzes gearbeitet haben, war für die Väter des Stasi-Unterlagen-Gesetzes nicht so überraschend wie für manche Kritiker heute. Aus § 46a beziehungsweise §
43 StUG könnten sie entnehmen, dass es den Artikel 10 unserer Verfassung (Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis) einschränkt und dem Bundesdatenschutzgesetz vorgeht. Es wäre ja auch sehr merkwürdig, wenn ausgerechnet ein Rechtsstaat, der zwei Weltanschauungsdiktaturen im Stammbaum hat, sich selbst der Chance begäbe, seine Bürger dafür zu sensibilisieren, welcher Abgrund sich öffnet, wenn Rechtsstaatswidrigkeit und Entrechtung zur Staatsroutine werden.

Im demokratischen Staat besteht immer ein Spannungsverhältnis zwischen Persönlichkeitsschutz und Wissenschaftsfreiheit. Es kommt auf den vernünftigen Ausgleich zwischen dem Recht des Einzelnen auf "informationelle Selbstbestimmung" und der Informationsfreiheit an. Historische Forschung und politische Bildung würden vereitelt, wenn Personen, die sich einst gern ins Rampenlicht der großen und kleinen Staatsaktionen begeben haben, hinterher das Licht der historischen Wahrheit scheuen dürften. Schließlich funktionieren Strukturen nicht anonym, sondern Menschen machen Geschichte. Im Besonderen gilt das für Personen der Zeitgeschichte, politische Funktionäre und Amtsträger aller Rangstufen. Neben dem Wirken der "großen Männer" und Frauen interessiert uns die Rolle eines Luftschutzwartes oder LPG-Vorsitzenden genauso.

Das moderne Archivrecht trägt dem auch Rechnung. So gewährt etwa das Bundesarchivgesetz von 1988 historisch Handelnden nur einen verminderten Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte. Sozialdemokraten und Grüne haben einmal dafür gestritten, die NS-Verstrickung der guten Gesellschaft nicht dem Vergessen anheim zu geben und Datenschutz nicht zu Täterschutz ausarten zu lassen. Für den Kommandosozialismus muss dasselbe gelten. Das StUG setzt keineswegs "Revolutionsrecht", sondern es kodifiziert nur die aufgeklärten Gewohnheiten von Demokratien beim Umgang mit ihrer historischen Überlieferung.

In § 32 sieht das Gesetz nun vor, dass an Forschung und Presse Unterlagen herausgegeben werden können, in denen sich - neben der Tätigkeit von hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeitern des MfS - das Verhalten von "Personen der Zeitgeschichte, Inhaber[n] politischer Funktionen oder Amtsträger[n] in Ausübung ihres Amtes" widerspiegelt. Dadurch wird der Gesetzeszweck eingelöst, "die historische, politische und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes zu gewährleisten und zu fördern" (§ 1). Wäre es die Absicht des Bundestages gewesen, dem umschriebenen Personenkreis denselben Persönlichkeitsschutz wie allen anderen Menschen zu gewähren, die in den 180 Aktenkilometern der SED-Geheimpolizei registriert sind, hätte er sich die Spezialregelung zur Förderung der Aufarbeitung schenken können. Das hat er aber nicht getan.

Allerdings ist ein Lapsus unterlaufen. Denn durch einen Zusatz im § 32 stellt das Gesetz eine vernünftige Informationslegung aus personenbezogenen Unterlagen sofort wieder infrage: Über das Tun der eigens aufgeführten Akteure soll man nur etwas erfahren dürfen, "soweit sie nicht Betroffene oder Dritte sind". (Betroffene sind Personen, zu denen das MfS "zielgerichtet" Informationen gesammelt hat; "Dritte" standen nicht im Visier, doch anfallendes Material zu ihnen wurde gleichwohl gespeichert.) Das aber sind außer den Stasi-Mitarbeitern und einem winzigen Kreis befehlsbefugter SED-Größen praktisch alle zeitgeschichtlich relevanten Personen. Die ominöse Ausschlussklausel entzöge das dichte Handlungsnetz der Diktatur der historischen Analyse.

Interessanterweise sind die sinnwidrigen sieben Worte in § 32 (1) 3 StUG erst in der hektischen Schlussphase der Beratungen aus nicht völlig geklärten Gründen in das Gesetz hineingeraten. In allen vorherigen Entwürfen der Volkskammer und einer breiten Bundestagsmehrheit fehlen sie. Das Berliner Urteil erkennt den offenkundigen Widerspruch des Wortlautes zur Absicht des Gesetzes und empfiehlt, falls man es für erforderlich halte, den Persönlichkeitsschutz der historischen Akteure "ausschließlich auf deren Privatsphäre zu begrenzen". Das ist unbedingt erforderlich und auch leicht zu bewerkstelligen, indem der spät hineingeratene Passus wieder entfernt wird.

Falsch verstandener Datenschutz

Schon 1992, als wir die vorbildlose Behörde in Gang zu setzen hatten, ist - einschließlich des damaligen Direktors und heutigen Staatssekretärs des Bundesjustizministeriums Hansjörg Geiger - über den apokryphen § 32 gerätselt worden. Da wir aber kein Zudeckungs-, sondern ein Aufklärungsgesetz vor uns hatten, sind wir bewusst den forschungsfreundlichen Weg gegangen. Der Bundestag nahm die Tätigkeitsberichte von Joachim Gauck stets beifällig auf. Auch der Bundesbeauftragte für den Datenschutz war von der verantwortungsvollen Praxis der Aktenherausgabe angetan. Über fünf Millionen Aktenkopien wurden Forschung und Presse zur Verfügung gestellt.

Sollten Kohl-Urteil und Gesetzeswortlaut Bestand haben, stehen wir nicht nur vor einer Wende bei der Aufarbeitung des DDR-Kommunismus, sondern auch vor einer fatalen Einschränkung unserer Einsicht in totalitär verfasste Systeme. In keinem modernen Land der Welt ist es einer Weltanschauungspartei und ihrer Geheimpolizei jemals gelungen, ihren Macht- und Disziplinierungsanspruch so weit zu treiben wie im zweiten deutschen Staat. "Mielkes Konzern" war der Generalunternehmer für Überwachung, Manipulierung und Terrorisierung. Bei der Durchdringung einer ganzen Gesellschaft spannte er neben seinen Spitzeln zahllose Helfer in Betrieben und Behörden, in den "Massenorganisationen" und Gerichten, in Schulen, Universitäten und Verlagen ein. Erst dieses "Politisch-Operative Zusammenwirken" bescherte der DDR ihren einzigartig verfeinerten Spättotalitarismus; bei der Zerstörung des Persönlichkeitsschutzes, der psychologischen Zersetzung ihrer Opfer und der Inszenierung von Justiz eröffnete sie sogar einen Ausblick auf Orwell.

Dieses engmaschige Handlungsnetz ist aus unzähligen "Betroffenen" und "Dritten" geknüpft: SED-Funktionäre, Kombinatsleiter, Offiziere, Polizisten, Staatsanwälte, Kaderleiter, VEB-Chefs. Wenn wir sie in den personenbezogenen Akten nicht mehr als Mitgestalter unserer Geschichte würdigen können oder sie sogar um Erlaubnis dazu fragen müssen, wird außer der Fassade des Honecker/Mielke-Sozialismus nicht mehr viel vorzuführen sein. Entscheidendes wäre verdeckt oder aus dem Kontext gerissen: Zensur, Doping, die politische Justiz (alle Verfahrensunterlagen liegen bei Frau Birthler), die Gewalt an der Grenze, der Windmühlenkampf gegen ein verkorkstes Wirtschaftssystem, Rivalitäten innerhalb der SED und so weiter. Über die NS-Verbrecher in mehr als 2000 Aktenbänden erführen wir dann natürlich auch nichts mehr, weil sie vom MfS zielgerichtet beobachtet und somit "Betroffene" sind. Die Unberufensten könnten sich zu Opfern stilisieren.

Orwells Unterwelt, vom Verwaltungsgericht geschlossen, wird nach und nach verblassen, wie antastbar die Menschenwürde im Staatssozialismus war, wie er eigentlich funktionierte und wie diese Spezies sich nur dank seiner Geheimpolizei am Leben halten konnte. Das würden jene freudig begrüßen, die in der DDR vor allem eine Nischen- und Fürsorgeeinrichtung sehen und der nächsten Generation einreden möchten, Lenins gute Idee sei nicht an sich selbst, sondern an seinen mediokren Nachfahren gescheitert. Die Bedrohung, die von Staatsparanoia, von der Einteilung der Welt in Freund und Feind und der Verabsolutierung von "Sicherheit" ausgeht, ist aber keine Erfahrung, die wir im 21. Jahrhundert getrost vergessen können.

Greift der Bundestag nicht ein, werden die Benutzungsmöglichkeiten für die Stasi-Unterlagen weit hinter jene in anderen Archiven zurückfallen. Das gilt für die NS-Zeit genauso wie für die SED-Bestände. Unsichere Archivare würde eine restriktive Position dazu ermuntern, den Paravent "Datenschutz" noch beherzter zwischen sich und dem Benutzer aufzubauen. Das heißt nicht, dass die Behörde der Bundesbeauftragten, deren Zukunft in der politischen Bildung und in der allmählichen Verwandlung in ein fast normales historisches Archiv liegt, frei von dieser und anderen Unsitten wäre. Bei der Betreuung von Forschung und Publizistik muss einiges transparenter werden. Doch darüber ist zu reden, wenn das Stasi- Unterlagen-Gesetz gerettet ist und das niedergetretene Gras sich wieder etwas aufgerichtet hat.

Der Autor ist Professor für Zeitgeschichte; Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung an der TU Dresden. Von 1992 bis1996 war er Leiter der Abteilung Bildung; Forschung der Gauck-Behörde


Beitrag aus: ©  DIE ZEIT ,  03/2002

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