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Warum regt sich keiner auf? 

Von Giovanni di Lorenzo 

In keiner Stadt Deutschlands ist seit der Befreiung von den Nazis so leidenschaftlich gestritten, so heftig protestiert, so lustvoll politisiert worden wie in Berlin. Keine Stadt hatte dafür bessere Gründe. Wo sonst in Deutschland haben die Menschen Geschichte unmittelbarer erlebt als in Berlin: Größenwahn und Götterdämmerung, Diktatur und Demokratie, Not und Wohlstand, Teilung und Zusammenwachsen - eine Stadt als Narbe und Nahtstelle. Und auf alles, was hier passierte, schauten die Völker der Welt aufmerksamer als irgendwo sonst.

Elf Jahre nach dem Untergang der DDR wird durch den Senat ein Bündnis besiegelt, das die einst in die SED hinein gezwungenen Sozialdemokraten mit den Rechtsnachfolgern der Einheitspartei zu Regierungspartnern wiedervereinigt. Viele Menschen, besonders im Osten Berlins, finden Rot-Rot gut. Für andere ist es so kurz nach Ende der DDR-Diktatur und ausgerechnet in Berlin die größte denkbare Provokation. Für einige, die Opfer des Regimes, ist diese Koalition eine Verhöhnung ihrer Biografie.

Diese widerstreitenden Einstellungen müssten zu heftigsten Kontroversen herausfordern. Stattdessen herrscht Apathie in der Stadt. Der Präsident der Industrie- und Handelskammer signalisiert Wohlwollen, und Beschwerdeführer werden nicht nur in der SPD schnöde abgewiesen, als seien sie nicht mehr ganz von dieser Welt. Rot-Rot in der Hauptstadt - und keiner regt sich auf.

Es geht an dieser Stelle nicht darum, die Legitimität der Koalition in Frage zu stellen. Sie ist aus freien Wahlen hervorgegangen. Es soll bei den meisten PDS-Mitgliedern auch nicht deren Bekenntnis zur Demokratie angezweifelt werden; obgleich die rot-grüne Bundesregierung paradoxerweise erklärt, Teile der PDS arbeiteten mit gewaltbereiten Extremisten zusammen und würden beobachtet. Es geht vielmehr um die sehr deutsche Frage, wie wir uns dem Unrecht in der Vergangenheit stellen wollen.

Von Egon Bahr stammt der Satz, Adenauers größtes Verdienst sei es gewesen, den ehemaligen Nazis die Hand zu reichen. Damit habe er für die Demokratie eine gewaltige Integrationsleistung vollbracht, denn die meisten Deutschen seien eben Nazis gewesen. Dieser Satz ist furchtbar - und wahr. Viele sehen heute ähnliche Zwänge. Aber der Vergleich ist schwer zu ziehen, nicht nur, weil die Untaten des Nationalsozialismus ungleich größer sind als alle Verfehlungen und Verbrechen in der DDR. Die alten West-Parteien von heute hätten nämlich auch andere Verbündete: Millionen Ostdeutsche waren weder IM's noch Parteimitglieder noch Handlanger des Systems, und selbst diese waren nicht alle Täter. Es sind Millionen Ostdeutsche, die eine andere Partei als die PDS wählen, in den neuen Bundesländern sind es drei Viertel der Bevölkerung.

Gestern stand in dieser Zeitung eine Reportage über die Genossen hinter Gysi: Für viele Funktionäre ist das Engagement in der PDS alles andere als ein Bruch in ihrer politischen Biografie. Es ist deren Fortsetzung mit anderen Mitteln - nun sind sie wieder an die Macht gekommen. Über ihre Lichtgestalt Gregor Gysi heißt es von Rechts bis Links, er sei einer der brillantesten Politiker in der Republik. Das ist er auch. Aber Gysi ist auch der ostdeutsche Politiker, bei dem es ein doch unverdächtiger Prüfungsausschuss des Bundestages für "erwiesen" hält, dass er eine inoffizielle Tätigkeit für die Stasi ausgeübt habe. Noch völlig undurchsichtig ist seine Rolle bei dem in Teilen skandalösen Versuch, Milliarden Ost-Mark Parteivermögen der SED ins vereinte Deutschland zu retten. Nun wird Gysi also Wirtschaftssenator.

Die gespenstische Ruhe im Angesicht von Rot-Rot hat gewiss auch mit der Verzweiflung der Wähler über die Vorgänger zu tun und bestimmt mit einer (politisch korrekten) Angst, als Feind der Ostdeutschen dazustehen. Noch mehr ist es aber wohl das bekannte Bedürfnis, Geschichte erst einmal zu verdrängen und zu vergessen. Es gibt Bürgerrechtler, die inzwischen das Gefühl haben, sie müssten allen Ernstes daran erinnern, dass die DDR eine Diktatur war. Vielleicht braucht es noch zehn oder zwanzig Jahre, bis man sich mit dem Unrecht dieses Systems wieder auseinandersetzen wird. Und sich fragen wird, warum sich keiner aufregte, als Rot-Rot in Berlin den Senat übernahm. 

Beitrag aus: Der Tagesspiegel online, vom 14.01.2002

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